Marta!
Hier schreibt Mark Scheppert eine Kolumne oder sagen wir mal seine Erlebnisse für Fritten, Fussball & Bier auf. Mark Scheppert ist der Autor des wunderbaren Buches „90 Minuten Südamerika“ und ist im Netz unter www.markscheppert.de zu finden.
Warum hörte ich eigentlich gerade von den Mädels aus meinem Freundeskreis vor dem bedeutenden Ereignis im eigenen Land immer wieder: „Ihr wollt nicht wirklich diese WM tippen?“
Natürlich schauten wir auch die Frauenfußball-WM, wetteten auf die Ergebnisse und fieberten mit! Letztendlich waren wir 24 Leute geworden, die täglich gebannt verfolgten, ob ihre Tipps mit den tatsächlichen Resultaten übereinstimmten. Meine Prognosen standen allerdings schon längst vor der WM 2011 fest. Ein Rückblick…
‚Die USA vor Japan, Frankreich und Deutschland. Das macht ja überhaupt keinen Sinn’, dachte ich verwirrt. Wir saßen im Oktober 2010 an einem Fluss im Brasilanischen Pantanal und genossen den Sonnenuntergang. Soeben hatte unser Tourguide Alex ein Piranha-Wettangeln veranstaltet. Das Ergebnis werde uns prophezeien, wer die nächste Fußball-Weltmeisterschaft gewinnt, hatte er lächelnd verkündet. Und nun das: USA vor Japan und Frankreich?
Pascal, der 1,90 Meter-Hüne nahm nicht teil. Er ist der gütigste Mensch den ich kenne und tötet keine Tiere. Ich allerdings, zog sogar extra mein Deutschland-Trikot an, um später Beweisfotos zu haben, die, bei einem grandiosen Sieg, meine Theorien zum WM-Ausgang 2014 untermauern sollten. Sylvie wollte komischerweise für die USA ins Rennen gehen und als sich Jenna für Frankreich entschied, war mir klar: die Schweine hatten vor mich zu verarschen. Das waren ja nicht gerade meine „Lieblingsländer“. Aber meine Freundin und Jenna waren, wie die kleine Japanerin – die für ihr Heimatland startete – zu vernachlässigen. Die hatten noch nie zuvor gefischt und ich war in meiner Jugend sogar im Angelverein gewesen.
Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Fische in den hiesigen stillen Gewässern, im Gegensatz zum Amazonas, wo Sylvie und ich, Familie Reintsch aus Österreich vor Jahren gemeinsam mit 3:0 geschlagen hatten, bei jedem einzelnen Auswerfen sofort anbissen („I werd narrisch“, hatte Vater Reintsch damals unentwegt gebrüllt). Während Sylvie – unter Anleitung von Alex – einen Piranha nach dem anderen an Land zog, bekam ich das rohe Fleisch mit meinen Wurstfingern nicht schnell genug auf den Haken oder kriegte die Fische mit den messerscharfen Beißern dann nicht mehr ab. Gleichzeitig stand ich ganz außen, dort, wo ständig ein zwei Meter großer Kaiman mit gierigem Maul, bedenklich nah an mich heran gekrochen kam. Als Alex „time is over“ rief, hingen dennoch drei Zahnfische an meinem Stöckchen. Doch Sylvie hatte acht aufgefädelt und auch Jenna schlug mich mit vier. Die Japanerin hatte sogar sechs Piranhas gefangen. Was für ein Mist!
Jenna, Pascal und ich saßen in Liegestühlen auf einem Hügel und lauschten dem vielstimmigen Kreischen der Vögel, das den nahenden Sonnenuntergang verkündete. Einige Kaimane lümmelten träge am Flussufer herum und schauten uninspiriert auf, wenn wir eine Brahma-Dose aufzischen ließen. Das mit dem Wettangeln hatte also nicht funktioniert, doch es war mir egal. Mutter Natur zeigte sich gerade von seiner Honigseite. Jenna drehte sich zur Seite und prostete mir zu. „War doch nur die Weiber-WM 2011, Scheppi.“ Ich lächelte dankbar zurück. Richtig! Sylvie hatte gewonnen. Erster USA, Zweiter Japan und Dritter Frankreich. Das machte ja sogar halbwegs Sinn!
Als wir zum Camp zurückliefen, kamen mir die Schwedinnen aufgeregt entgegen gerannt. Schlechte Nachrichten: Sylvie ging es überhaupt nicht gut. Geschockt begleitete ich sie ins Zimmer der Frauen und betrachtete mein süßes Mädchen. Sie war von Kopf bis Fuß mit dicken, roten Beulen übersät, so als wäre sie von hunderten Hornissen gestochen worden. Stolz, wie eine Indianerin, hatte sie vorhin nicht groß über den Stich des wespenartigen Viehs gejammert und lediglich gesagt, dass sie schon vorginge. Doch scheinbar hatte sie allergisch darauf reagiert.
Sich selber nicht so wichtig nehmen, ist ihre Lebensdevise. Mir gefällt das eigentlich, doch augenblicklich spürte auch ich einen Stich – in der Herzgegend. Das Reisen in Südamerika kitzelte seit jeher große Gefühle aus mir heraus. Ich liebte dieses kleine Wesen dort unten im Bett abgöttisch und wusste plötzlich wieder, dass ich nie mehr im Leben ohne sie sein kann.
Pascal beruhigte mich und zusammen mit Diane besuchten wir Sylvie jede Stunde. Antiallergikum und Wasser schienen zu helfen und bevor sie einschlief, beglückwünschte ich sie nochmals zum Angelsieg und zum Gewinn der Frauen-WM. Sie fragte: „Kennst du denn auch eine Fußballspielerin?“ „Ja, Marta!“, antwortete ich überraschend spontan und gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss. Die weltbeste Fußballerin kannte sogar ich. „Die spielt aber leider für Brasilien und nicht für ‚deine’ USA!“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie lächelte. Am nächsten Morgen ging es ihr besser, doch sie fühlte sich noch zu schwach, um mit auf die Bootstour zu kommen.
Ich hatte es schon in den ersten Tagen festgestellt: für Normaltouristen, wie uns, schlug das Pantanal, das Amazonasgebiet um Längen. Sicherlich gab es im Dschungel am großen Fluss mehr Tier- und Pflanzenarten, doch man sah sie dort einfach nicht. Das unkontrollierte Wuchern von Bäumen und Sträuchern verhinderte oft einen Blick in diese einzigartige Welt. Im Pantanal, dem größten Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, liefen wir durch lichtdurchflutete Wälder, ritten über steppenartige Ebenen und beobachteten an großen Wasserlöchern, wie sich Brehms-Tierleben versammelte. Der „Scheiß-Sumpf“, wie ihn Jenna vorher noch bezeichnet hatte, war das schönste und artenreichste Naturparadies, das ich jemals in Südamerika gesehen hatte. Die sportbegeisterten Schwedinnen riefen einen regelrechten Wettkampf aus, wer die spektakulärsten Tiere fotografierte. Doch obwohl wir in unterschiedlichen Tourgruppen unterwegs waren, sahen wir letztendlich die gleichen Sumpfhirsche, Ameisenbären, hyazinthfarbene Aras, Tukane, Raubvögel, Riesenstörche, Brüllaffen, Riesenotter, Leguane, Kaimane usw.
Als wir mit dem Boot starteten, waren wir ihnen lediglich zwei Gürteltiere voraus, während sie schon ein Wasserschwein gesehen hatten. Diane und Susan warfen die Angeln aus und brüllten uns hinterher: „More than eight.“ ‚Niemals würden sie mehr als acht Piranhas fangen’, dachte ich und schrie zurück: „And we will see a jaguar!“
Das Wasserschwein war schnell abgehakt, doch einen Jaguar sahen wir natürlich nicht. Er ist die größte Katze und das Tier der Tiere auf diesem Kontinent. In fast allen alten Kulturen, wurde er gottgleich verehrt, doch in unserem Zeitalter sieht man ihn nur noch sehr selten. Den letzten hatte hier jemand vor sechs Wochen gesichtet und Alex sogar noch nie einen. Er hatte allerdings auch kein besonders gutes „Tierauge“. Oftmals erblickten wir eine Spezies zuerst und fragten unseren erstaunten Guide, was das eigentlich war.
Die Fahrt auf dem spiegelglatten Fluss glich einer Biologiestunde. Lediglich die Flummiball-ähnlichen Augen von Caimanen trieben ab und an bedrohlich auf der Wasseroberfläche. Alex hatte uns erklärt, dass diese südamerikanische Krokodilart hier reichlich zu fressen fände, da unter uns Abermillionen Piranhas schwämmen. Die lieben stille Gewässer, denn sobald es etwas Strömung gebe, könne man sogar halbwegs gefahrlos baden. Hier jedoch bewegte sich – wie auf einem ollen Ententeich bei Windstille – nichts. Tausende verschiedenfarbige Vögel standen am Ufer oder saßen hoch oben auf den Bäumen und achteten darauf, dass sie den gefährlichen Fleischfressern bloß nicht zu Nahe zu kamen.
Begeistert tuckerten wir den Fluss in umgekehrter Richtung wieder zurück.
Wahrscheinlich waren wir zu schwer, denn wir strandeten auf einer Sandbank und Alex forderte uns lächelnd auf, mal kurz auszusteigen. Wie dumm, gerade noch gehört und schon wieder verdrängt: Mein Gehirn verarbeitete erst, als wir wieder an Bord waren, dass wir soeben in einem fast regungslosen, extrem Piranha-verseuchtem Gewässer gestanden hatten. Horror!
In diesem Moment raschelte es neben uns im Dickicht. Bis auf Alex sahen wir ihn alle gleichzeitig. Mit funkelnden Augen schaute uns ein ausgewachsener Jaguar an. Es war der magische Augenblick, das Non-Plus-Ultra, das unbeschreibliche Highlight und das intensivste Gefühl meiner bisherigen Reisen. Das muskulöse Raubtier hätte mit einem Satz jederzeit auf unseren Bug springen können, doch es schaute uns nur fragend an und schlug seine Pfoten elegant übereinander. Als die Großkatze fast geräuschlos wieder im Urwald verschwand, schwiegen wir minutenlang andachtsvoll. Alex standen Tränen der Rührung in den Augen und ehrlich gesagt: mir auch.
Diane und Susan, die jeweils fünf Piranhas gefangen hatten, konnten es nicht fassen, als wir ihnen freudestrahlend die Bilder zeigten. Ich dachte kurz darüber nach, dass „uns“ jetzt auch noch Schweden im Wettangeln geschlagen hatte und Deutschland bei der Frauen-WM somit nicht einmal ins Halbfinale käme. Aber so weit würde es schon nicht kommen. War ja eh alles nur Quatsch!
Auch die anderen Leute im Camp waren neidvoll begeistert. Obwohl ich gleich zu Sylvie rennen wollte, sollte ich die Fotos zunächst noch Carlos zeigen. Er unterhielt eine Datenbank, in der alle Jaguare geführt waren, die in dieser Region bisher gesichtet wurden. Anhand der markanten schwarzen Ringflecken könne er uns sofort den Namen nennen. Doch unser Weibchen wurde noch nie zuvor gesehen. Er bat Alex, Jenna, Pascal und mich, das Tier zu taufen und alle hatten scheinbar dieselbe Idee. „Wartet!“, rief ich.
Natürlich war Sylvie todtraurig, dass sie soeben nicht dabei gewesen war und zugleich gerührt, dass sie die Namensgeberin eines so bedeutenden Tieres werden sollte. Sie zog mich nach unten ins Bett, nahm mich in die Arme und flüsterte: „Das ist ja süß, aber ich möchte nicht, dass euer Jaguar Sylvie heißt.“ „Warum denn nicht?“, antwortete ich enttäuscht. „Hast du eine bessere Idee?“ Sie lächelte mich an. „Wir sind ja schließlich in Brasilien. Nennt ihn bitte Marta!“
Ach so: bei unsere Tipprunde stehe ich momentan übrigens prima da!
Katta
Faszinierend! Nicht nur der Bericht, sondern auch, dass bisher alles so eingetroffen ist. Ich war auch schon in Brasilien im Pantanal und kann die Eindrücke des Autors nur bestätigen. Leider haben wir damals keinen Jaguar gesehen. Toll beschrieben. Neid!